Der Meister der bürgerlichen Komödie: Zum Tod Claude Chabrols

Andreas Kilb hat in der FAZ vom 13. September 2010 eine wunderschöne Würdigung des verstorbenen Filmregisseurs Claude Chabrol veröffentlicht. Chabrol habe die Verbindung von Kino und Leben verkörpert wie kein anderer: „Seine Filme richteten sich immer an das Publikum da draußen, an die Groß- und Kleinbürger, die am Samstagabend einen Krimi oder ein Melodram auf der Leinwand sehen wollen, ohne unter ihrem Niveau lachen oder weinen zu müssen.“ Wir dokumentieren hier diesen Nachruf in Erinnerung an die Filme Chabrols, die wir im Kuki über die Jahre gezeigt haben.

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So zart wie die Taube auf dem Tisch

Der Meister der bürgerlichen Komödie: Zum Tod des Filmregisseurs Claude Chabrol

von Andreas Kilb

Das Wort „maître“ hat im Französischen eine breitere Bedeutung als im Deutschen der Begriff „Meister“. Es bezeichnet den Künstler, der sein Handwerk versteht, aber auch den Besitzer eines Hotels oder Restaurants, das Familienoberhaupt, den Küchenchef, den Anwalt und den Lehrer. Es strahlt Autorität aus, aber auch eine gewisse bequeme Würde, eine Gelassenheit, die man nicht mit Harmlosigkeit verwechseln darf. Eben darum passt es perfekt zu Claude Chabrol.

Chabrol war der „maître“ des französischen Films, sein Hausvater, Ehrenvorstand, Lehr- und Küchenmeister. Die Lücke, die sein Tod hinterlässt, reicht deshalb tiefer als das Gedächtnis der Kinobranche, sie markiert den Abschied von einem Regisseurstypus, der von den Leuten auf der Straße als ihresgleichen erkannt und anerkannt wurde, auch wenn sein Metier mit Künsten und Kniffen zu tun hatte, die dem Alltagsmenschen unverständlich blieben. Chabrol hat das Kino betrieben wie ein Renaissancemaler seine Werkstatt, mit einem handwerklichen Ernst, den er noch bei den Pionieren des Mediums erlernt, und einer intellektuellen Schärfe, die er in den Kampfjahren der Nouvelle Vague entwickelt hatte.

Seine Filme aber richteten sich immer an das Publikum da draußen, an die Groß- und Kleinbürger, die am Samstagabend einen Krimi oder ein Melodram auf der Leinwand sehen wollen, ohne unter ihrem Niveau lachen oder weinen zu müssen. Er ist deshalb nicht zur mythischen Gestalt geworden wie Truffaut, mit dem er die Verehrung für Alfred Hitchcock teilte, und ihm haftet auch nicht der Nimbus des Propheten an wie seinem einstigen Freund Godard, dessen politische Posen er mit ätzendem Spott bedachte. Aber Chabrol verkörpert etwas, das vielleicht noch wichtiger ist, eine Verbindung von Kino und Leben, in der das eine der Spiegel des anderen ist.

In seinen Filmen hat man das Gefühl, den eigenen verdrängten Lastern auf die Schliche zu kommen, auch wenn die Hauptpersonen Provinzpolitiker, Metzger oder Vorstadtarchitekten sind. Das liegt an Chabrols Regisseursblick, der durch die penibel gezeichnete Fassade des Alltags den Figuren untrüglich ins Herz schaut. „Das bist du“: Dieser Satz, der für alle großen Kunstwerk gilt, ist auch die Wahrheit des Kinos von Claude Chabrol.

Nach Paris kam der Apothekersohn wie viele seiner Mitstreiter in den Redaktionsräumen der „Cahiers du Cinéma“ aus der tiefen Provinz. Mit dreizehn Jahren hatte er einen Filmklub in einer Dorfscheune gegründet, mit zwanzig, als Student der Sorbonne, träumte er davon, das französische Kino neu zu erfinden. Eine Erbschaft seiner ersten Frau verschaffte ihm die Mittel für sein Spielfilmdebüt „Die Enttäuschten“, das er 1959 in dem Dorf im Departement Creuze drehte, in dem er seine Kindheit verbracht hatte.

Diese Entscheidung ist charakteristisch für Chabrol. Wann immer er in seiner langen Karriere ein neues Thema, einen neuen Aspekt seiner filmischen comédie humaine oder eine Gelegenheit zur Selbstbesinnung suchte, ist dieser Regisseur in die Provinz zurückgekehrt. Anhand seiner Filme könnte man eine kinematografische Landkarte von Frankreich erstellen: die Seenlandschaft der Haute-Garonne in „Die Hölle“ (1994), die Buchten der Côte d’Azur in „Die Freundinnen“, die Flusstäler der Dordogne in „Der Schlachter“ (1970), die Felsen und Dörfer der Bretagne in „Das Biest muss sterben“ (1969) und „Biester“ (1995), die Wälder von Vichy in „Der Schrei der Eule“ (1987), die Weinberge am See von Lausanne in „Süßes Gift“ und so fort.

Aber Chabrols Kino ist keine Landschaftsmalerei. Die Natur dient dazu, den Stoffen das Atelierhafte zu nehmen, sie in die Welt zurückzubringen, der sie entstammen. In „Der Schlachter“ unternimmt eine Schulklasse einen Tagesausflug. Beim Picknick hat plötzlich eins der Kinder Blut auf seiner Stirn; es blickt nach oben und sieht auf einem Felsvorsprung den Arm einer Frauenleiche. Beiläufiger und präziser kann man die Linie zwischen Verbrechen und Alltag nicht ziehen. Und ebenso wie der Schlachter Popaul gehen auch alle anderen Verbrecher bei Chabrol bürgerlichen Berufen nach.

In der Simenon-Adaption „Die Phantome des Hutmachers“ von 1982 entdeckt der Held, gespielt von Michel Serrault, dass er neben der Hutmacherei eine zweite Begabung hat, die zum Töten. Der Zwang, sein Talent vor den Honoratioren der Kleinstadt geheimzuhalten, mit denen er sich zum Kartenspielen trifft, zerreißt ihn fast, so wie es den von Michel Bouquet gespielten Frauenmörder in „Vor Einbruch der Nacht“ (1971) zerreißt, dass er seine Tat nicht bei der Polizei beichten kann. Dass Verbrechen sich nicht lohne, war die Moral des klassischen Hollywoodkrimis. Die Botschaft in Chabrols amoralischen Geschichten dagegen lautet, dass die wenigsten die Schuld ihres Verbrechens aushalten, dass die Mehrzahl sich danach sehnt, entdeckt und erlöst zu werden. Der Täter ohne Skrupel, wie ihn Philippe Noiret in „Masken“ (1986) verkörpert, hat dagegen bei Chabrol immer etwas Clownshaftes, er wirkt wie eine Figur, die sich aus einer anderen Sorte von Kino hierher verirrt hat.

Es gibt Szenen in Chabrols Filmen, die man nicht mehr vergisst. Da ist der Moment in „Die untreue Frau“, in dem Stéphane Audran beim Telefonieren mit ihrem Liebhaber erwischt wird; die Autofahrt am Ende von „Der Schlachter“, auf der Jean Yanne Audran seine Liebe und seine Taten gesteht, während er verblutet; der von Mitleid versteinerte Blick der Engelmacherin Isabelle Huppert in „Eine Frauensache“; und das Gesicht derselben Schauspielerin in „Süßes Gift“, über das eine einzelne, glitzernde Träne rinnt, als sie erkennt, dass ihr Intrigenspiel vorbei ist. Allen diesen Augenblicken gemeinsam ist, dass sie von Menschen handeln, dass sie kein geniales Stillleben, sondern ein Zusammenspiel von Akteur und Kamera sind. Chabrol, der sich selbst gern zum Zyniker stilisierte, war ein ebenso großartiger Frauen- wie Männerregisseur, und es gibt keinen Schauspieler, der in der Zusammenarbeit mit ihm nicht geglänzt hätte, von Jean-Claude Brialy in „Die Enttäuschten“ bis zu Gérard Depardieu in Chabrols letztem Film „Bellamy“.

Eine Dokumentation, die zu Chabrols fünfundsiebzigstem Geburtstag entstanden ist, zeigt den Regisseur beim Festmahl mit Freunden. Einige seiner wichtigsten Schauspieler sind da, Sandrine Bonnaire, Benoît Magimel, Chabrols Sohn Thomas, aber der Regisseur will nicht über Kunst reden, sondern über die Qualität des Essens, und schließlich erzählt er noch einmal die Geschichte von der gebratenen Taube, der besten seines Lebens, die er in einem burgundischen Restaurant aß. Die Taube, sagt er, war so zart, weil der Koch sie nicht geköpft, sondern erstickt habe, so dass das ganze Blut in dem Vogel geblieben sei. In dieser Anekdote ist der ganze Chabrol, seine Grausamkeit, seine Zärtlichkeit, sein alles durchdringender Blick, der dem Kino bitter fehlen wird.

Die Welt, in der die Nouvelle Vague groß wurde und Chabrol mit der Kamera die Tragikomödien des französischen Bürgertums einfing, ist wieder ein Stück weiter hinter den Horizont gesunken. In seinen Filmen aber kann man sie immer wieder neu entdecken. Am Sonntag ist Claude Chabrol im Alter von achtzig Jahren in Paris gestorben. ANDREAS KILB
Text: F.A.Z., 13.09.2010, Nr. 212 / Seite 27